Wir Ehemaligen - Erinnerungen



Artikel in der FAZ: "Das Kabinett der Vergänglichkeit - Verlorene Jugend: In Bad Wildungen"


Reiseblatt Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.06.2006, Nr. 136, S. R5

Das Kabinett der Vergänglichkeit
Verlorene Jugend: In Bad Wildungen / Von Volker Mehnert
 
Fünfzig blühende Stationen befinden sich auf dem Gelände der Hessischen Landesgartenschau. Doch unser Weg führt uns zwangsläufig direkt zur Nummer elf, dem "Salon der Wiederkehr". Hier gibt es Pflanzen, die wachsen, aufblühen, verschwinden und sich dann in der nächsten Saison oder eines schönen Tages abermals zeigen. Hier gehören auch wir hin, die wir dieser Stadt in Nordhessen vor Jahrzehnten den Rücken gekehrt haben und nun in einem Anfall von Nostalgie eine kurze Wiederkehr und ein Stückchen Erinnerung wagen. Hier müßte sie sich eigentlich versammeln, jene ganze Abiturklasse, die achtzehn, neunzehn Jahre lang in Bad Wildungen aufwuchs und sich danach in die nahe und ferne Welt hinaus verflüchtigt hat.

Es war ein leichtherziges Weggehen damals, eine unbekümmerte Flucht aus der viel zu übersichtlichen Kleinstadt und ihrem festgefahrenen Gefüge - genau so, wie sie uns Thomas Mann in den Memoiren des Felix Krull vorhergesagt hatte: "Wie leicht, wie ungeduldig, geringschätzig und unbewegt läßt der ins Weite stürmende Jüngling die kleine Heimat in seinem Rücken, ohne sich auch nur noch einmal umzusehen." Tatsächlich haben wir damals nicht zurückgeschaut, und keiner ist auf Dauer zurückgekommen an diesen Ort der Kindheit und Jugend, keiner hat beschlossen, sein Leben hier zu verbringen. Nun aber ist die Zeit für die flüchtige Wiederkehr eines Emigranten in seine alte Heimatstadt gekommen, denn, auch das hatte Thomas Mann prophezeit: "Wie sehr er ihr auch entwachsen sein und ferner entwachsen möge, doch bleibt ihr lächerlich-übervertrautes Bild in den Hintergründen seines Bewußtseins stehen und taucht nach Jahren tiefer Vergessenheit wunderlich wieder daraus hervor. Ja, eines Tages, nach Ablauf vieler für ihn ereignisreicher, veränderungsvoller Jahre, zieht es ihn wohl persönlich an jenen Ausgangspunkt zurück."

Der Tag beginnt mit einer Überraschung: Die Infrastruktur für die Landesgartenschau, das Bad Wildunger Großereignis des Jahrzehnts, ist offenbar nicht rechtzeitig zur Eröffnung fertig geworden. Vor der Wandelhalle, dem Hauptgebäude des Gartenschaugeländes, steht noch ein halbes Dutzend Bagger, der Vorplatz präsentiert sich als Baustelle, der Zugang ist nur beschränkt möglich. Wir registrieren diesen Lapsus als erste ironische Randnotiz an einem Ort, an dem man uns jahrelang deutsche Tugenden wie Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit eingebimst hatte.

Die Modernisierung der alten Wandelhalle aber, deren Säulen-Halbrund um eine geradlinige Glasfront ergänzt wurde, ist abgeschlossen und präsentiert sich als architektonischer Glücksgriff, als stimmige Verknüpfung von Vergangenheit und Zukunft. Im Innern, dort, wo vor Jahrzehnten Peter Frankenfeld und Hans-Joachim Kulenkampff, die Entertainer des frühen deutschen Fernsehens, ihre Gastspiele in der nordhessischen Provinz gaben, finden im Laufe der nächsten Monate vierzehn thematisch wechselnde Blumenschauen statt. Von der Wandelhalle aus schmiegt sich das grüne Band der Gartenschau dann als Parklandschaft an der gesamten Stadt entlang durch das Bornebachtal hinab bis zum Bahnhof. Eine prächtige Sonnentreppe, goldene Gärten, "Erfahrungsgärten" und "kleine Paradiese" haben die verwilderten Wiesen abgelöst, auf denen wir als Kinder herumstrolchten, die Zeit vergaßen und deshalb regelmäßig zu spät nach Hause kamen. Angesichts der gründlichen Metamorphose des Geländes fällt die Erinnerung daran allerdings schwer.

Leichter fündig wird der suchende Blick in die Vergangenheit auf der zweiten grünen Seite der Stadt, im weiter südlich gelegenen Helenental. Dorthin haben sich die Gartenschaugestalter nicht vorgewagt. Auf einer Anhöhe steht der schmucklose, steinerne Klotz des Doktor-Marc-Turmes, der an einen bekannten Wildunger Badearzt erinnern soll. Jetzt aber wirkt er wie das Monument einer lange zurückliegenden Kindheit. Erreichbar war er damals nur auf einem umständlich geführten Waldweg, weshalb wir Kinder immer über die steilen Klippen des Helenentals hinaufkletterten, was natürlich streng verboten war. Von oben hat man einen weiten Blick auf die Stadt und den Kellerwald mit seinem außergewöhnlichen Buchenbestand, der inzwischen zum Nationalpark erklärt worden ist.

Doch die Aussicht nahmen wir damals wohl gar nicht zur Kenntnis, der riskante Weg über die Felsen hinauf zum Turm war Ziel und Zweck der Exkursionen. Inmitten dieser Klippenlandschaft befand sich auch eine Höhle, die wir eigentlich nicht betreten durften. Doch wozu hatten wir Tom Sawyers Abenteuer gelesen, wenn wir hier nicht unsere heimische Version jener furchterregenden McDougals-Höhle im fernen Amerika zu finden hofften? In der Dunkelheit konnte sich die Phantasie frei entfalten, hier fanden die ersten imaginären Schritte hinaus in die weite Welt statt - von der wackeren hessischen Kleinstadtexistenz zu einem Abenteuer versprechenden Fluß mit dem exotisch-verlockenden Namen Mississippi.

Im Stadtzentrum gestaltet sich die Spurensuche wieder schwieriger: Wo sind die drei Kinos geblieben, die es damals gab und die - wie sollte es anders sein - Central, Astoria und Capitol hießen? Jene Kinos, in denen man sich nachmittags heimlich einen "Cowboyfilm" anschaute und für sechzig Pfennig den "Rasiersitz" bekam, einen billigen Platz in der ersten oder zweiten Reihe vor der Leinwand. Kinos gibt es nicht mehr im heutigen Bad Wildungen; das eine Gebäude beherbergt jetzt einen Supermarkt, im anderen residiert ein Finanzdienstleister, und vom dritten ist keine Spur zu entdecken.

Völlig verschwunden unter dem Gelände eines Einkaufszentrums ist auch der alte Sportplatz, auf dem der VfL Bad Wildungen, immer eine traurige und erfolglose Kickertruppe, in einer unteren Liga gegen Mannschaften aus unerhörten Dörfern wie Gombeth, Zella oder Frielendorf antrat und auf dem wir uns dennoch jeden Sonntag in der Hoffnung auf einen nie eingetretenen Aufstieg in höhere sportliche Gefilde einfanden. Kaum wiederzuerkennen hinter dem Hallenbad sind auch die umgestalteten Liegewiesen des Freibades, auf denen Sommer für Sommer und Schritt für Schritt die harmlosen Annäherungen ans andere Geschlecht stattfanden, vorzugsweise an Annette, Monika und Ulla, jene jugendlichen Champions aus dem Wildunger Schwimmverein, die jahrelang die Kreismeisterschaften im damals noch existierenden Landkreis Waldeck, dem Limit unseres sportlichen Universums, unter sich ausmachten.

Wo sind die Kneipen, in denen wir als Teenager unsere Samstagabende verbrachten? In die leicht verruchte "Onkel Tom's Hütte", in der wir zusammen mit dem großen Cousin Jürgen unser erstes Bier trinken durften, ist längst ein solides griechisches Restaurant eingezogen. Und von den stundenlangen Tischfußballgefechten in den "Hansastuben" von Frau Nachtmann weiß heute niemand mehr etwas. Verschwunden ist auch jene verhaßte Straßenkreuzung zwischen Eselspfad und Brunnenstraße, an der Generationen von Fahrschülern das Anfahren am Berg hinein in eine belebte Vorfahrtstraße üben mußten und die Panik hervorrief, wenn der Fahrlehrer sie ansteuern ließ. Auch keine Spur mehr gibt es vom Spielzeuggeschäft Wackerbarth, an dessen Schaufenster wir uns im sehnsüchtigen Anblick von Märklin-Eisenbahnen und Carrera-Autobahnen die Nasen platt drückten; vom Schreibwarenladen des Herrn Lorenz, bei dem wir auf Geheiß eines gestrengen Kunstlehrers immer eine bestimmte Sorte Bleistift und Radiergummi zu kaufen hatten; und von der Buchhandlung Bing, in der wir Bücher von Somerset Maugham und Joseph Conrad bestellten, die uns Lust auf ferne Meere und Kontinente machten, während uns die Schule mit Lessing und Fontane langweilte.

Das Schulgebäude in der Stresemannstraße präsentiert sich hingegen bis heute fast unverändert; noch immer prangt an seiner Frontseite die Einsteinsche Äquivalenzgleichung, die wir beim Eintritt ins Gymnasium ehrfürchtig und verständnislos betrachteten und deren Anblick nachher so selbstverständlich wurde, daß wir gar nicht merkten, daß wir sie im Laufe der Jahre nie erklärt bekamen, weil der Unterricht sogar im naturwissenschaftlichen Zweig in der Newtonschen Physik steckengeblieben war. Vielleicht lag es an den Kriegserlebnissen, die sich die Lehrer damals beständig von der Seele reden mußten, jedenfalls in den Mathematik- und Geographiestunden, nicht aber im Geschichtsunterricht, der - ob per Lehrplan oder durch herbeigeführten Zufall - auf jeder Schulstufe mit der Gründung des Deutschen Reiches von 1871 endete. Mit einer jüngeren Vergangenheit mochte man sich nicht auseinandersetzen, und das brachte schließlich eine Schülergeneration auf den Plan, die den Muff von tausend Jahren, der auch in unseren Wildunger Klassenzimmern steckte, austreiben wollte. Die jugendlichen Einsprüche wurden daraufhin regelmäßig gekontert mit dem Hinweis, daß man es später als Erwachsener schon einsehen und an die Schule zurückkehren werde, um der autoritären Pädagogik nachträglich recht zu geben. Aber nein, liebe Lehrer von damals, das ist ganz sicher nicht der Grund unserer jetzigen Wiederkehr, auch wenn unsere Generation inzwischen unter dem Schlagwort "Achtundsechziger" selbst Teil einer jüngeren Vergangenheit ist und neuerdings rückblickend wiederum gescholten wird.

Nicht nur in der Schule kam Distanz auf, auch sonst fühlte man sich zunehmend fremd in dieser behüteten Kleinstadt inmitten des dunklen Kellerwaldes, und das böse Wort von "Hessisch Sibirien" machte unter den Jugendlichen die Runde. Nicht einmal die Kurgäste brachten einen Hauch der großen weiten Welt in unser provinzielles Leben. In der Ära der massenhaften Kuren war Wildungen zwar zum größten hessischen Staatsbad avanciert und hatte fast hunderttausend Kurgäste im Jahr, doch waren es in der Regel Leute aus dem Ruhrgebiet oder den Vororten von Hamburg, die für zwei, drei Wochen aus ihren eigenen kleinen Welten entkommen waren und diese für die Zeit des Kuraufenthalts soweit wie möglich vergessen wollten. Die Zeiten des "Weltbades", wie sich die Stadt noch großspurig nannte, waren schon damals vorbei. "Herrschaften von Stand" kamen höchstens in Ausnahmefällen. Einmal nur haben wir Karajan gesehen, wie er an der Tankstelle seinen roten Ferrari auftanken ließ, oder wir haben es uns zumindest eingebildet.

Die Welt der Kur war einfach nicht unsere Welt. Der Kurpark galt für uns Kinder sowieso als Tabuzone, reserviert für die kurenden Herrschaften, die nicht gestört werden wollten und sollten. Es gab nur einen kleinen Dienst, den der Park auch den Wildunger Gören erwies: Der eine oder andere nämlich wagte sich am Abend vor Muttertag heimlich in das Gelände hinein, um von den blühenden Beeten einen kleinen Blumenstrauß zu stehlen. Auch den Geschmack der Quellen verabscheuten wir. Im Quellenmuseum sind heute die alten Fassungen der Helenenquelle und der Georg-Viktor-Quelle ausgestellt, aus denen wir seinerzeit bei unseren Streifzügen nur im Notfall einen kühlen Schluck nahmen. Völlig an uns vorbei ging auch jenes Ambiente, in dem der Kurschatten ein weitverbreitetes Wesen war, das wir allenfalls in Andeutungen über die alleinstehende Nachbarin aus dem Mietshaus gegenüber kennenlernten. Man muß es den Wildungern hoch anrechnen, daß sie eines Tages den Humor aufgebracht haben, den Kurschatten aus dem Zwielicht des Getuschels herauszuholen und ihm ein doppeldeutiges Denkmal zu setzen. Die Dame mit engem Rock und ausladenden Hüften wirft seither an der Brunnenallee effektvoll ihren deutlichen Schatten auf den Bürgersteig.

Wenige Schritte weiter steht die Skulptur des Quellenkobolds Schluten, den sich die Stadt vor einigen Jahren ausgerechnet zum Sympathieträger erkoren hat, während wir Schüler uns seinerzeit noch von den Kindern der Nachbardörfer abfällig als "Wildunger Schluten" betiteln lassen mußten, hergeleitet von jenen Tontöpfen, in denen das Heilwasser in früheren Zeiten bis nach Skandinavien exportiert wurde.

Das Kurbad, wie es war, kommt also mehr und mehr ins Museum oder wird als nostalgische Vergangenheit vermarktet. Von der Wellness-Welle erhofft man sich weitere Impulse auf dem Weg vom Weltbad zur selbsternannten "Wohlfühlstadt", und nun soll die Hessische Landesgartenschau das Fanal für einen neuen Aufbruch sein. Aber läßt sich die gealterte Diva Bad Wildungen tatsächlich noch einmal durch ein blumig Make-up zu einem dritten Frühling erwecken? Eine Antwort auf diese Frage haben wir auf der Gartenschau weder im "Kabinett der Vergänglichkeit" noch im "Salon der Ewigkeit" gefunden.


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( Vielen Dank an Vera Dierks für den Hinweis auf diesen Artikel )



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